Die Architektur des Realen in Frankreich

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Muoto: Campusgebäude der Universität Paris-Saclay, 2011–2016, Foto: Maxime Delvaux

Organisator*innen: ARCH+ (Berlin)
Teilnehmer*innen:
Gilles Delalex, Stéphanie Bru, Finn Geipel, André Kempe, Anne Lacaton, Yves Moreau, Alexandre Theriot, Anh-Linh Ngo

Daten: Oktober 2020
Orte: Akademie der Künste (Berlin)

Im letzten Jahrzehnt hat sich in Frankreich eine junge Generation an Architekten entwickelt, die in stärkerem Maße an den rationalistischen Teil der französischen Tradition anknüpft. Es gibt starke Bezüge zum Werk von älteren Architekten wie Jean Nouvel oder Lacaton & Vassal hinsichtlich der Prioritäten sowie eine Geistesverwandtschaft mit den gegenwärtigen Architekturentwicklungen in Flandern. Diese neuen Büros, zu denen Bruther, l’AUC, NP2F, Muoto, Grau, Septembre und Éric Lapierre zählen, bieten einen neuen Realismus an, mit dem sie Erfolg bei Wettbewerben haben.

Im Herbst 2020 widmet die Zeitschrift ARCH+ eine gesamte Ausgabe dieser neuen Strömung. Neben Werken ausgewählter Büros wird in Interviews und Essays diskutiert werden, unter welchen professionellen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen Architektur heute entsteht. Was macht das spezifisch Französische der vorgestellten Arbeiten im europäischen Kontext aus? Was können wir davon lernen?

Um auf Grundlage dieser Gespräche die Interviewpartner in einen Dialog untereinander und in den Austausch mit auch in Frankreich operierenden deutschen Architekturbüros zu bringen, organisiert ARCH+ eine öffentliche Diskussion, bei der die Bedingungen der Architekturproduktion in Frankreich offengelegt werden. Bruther und Muoto als Vertreter der jungen Generation werden in kurzen Inputs ihre architektonische Praxis vorstellen, um auf dieser Grundlage mit Anne Lacaton und Finn Geipel über französische Produktionsbedingungen, Eigenheiten und Tendenzen zu diskutieren. Lacaton & Vassal sind Protagonisten der Vorgängergeneration und wurden vor allem außerhalb Frankreichs stark rezipiert. Anne Lacaton unterrichtet an der ETH Zürich, ihr Partner Jean-Philippe Vassal ist Professor an der UdK in Berlin. Sie blicken aus einer gewissen Distanz auf die heimische, junge Szene und können sie im größeren europäischen Kontext einordnen. Der Deutsche Finn Geipel wiederum hat sehr viel in Frankreich gebaut und weiß um die länderspezifischen Unterschiede und Besonderheiten. Ziel des Projekts ist ein Kultur- und Wissensaustausch, um ein gegenseitiges Verständnis für die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der komplexen Architekturproduktion in Frankreich und Deutschland zu wecken.

ARCH+ ist eine unabhängige Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Gegründet im Gefolge des 1968er-Aufbruchs liegt der Schwerpunkt auf der kritischen Reflexion des gesellschaftlichen Anspruchs von Architektur. Jedes Heft beleuchtet eingehend ein Thema und greift dabei aktuelle Diskussionen aus anderen Disziplinen in Hinblick auf architektonische und urbanistische Fragestellungen auf.

  • 28.10.2020: Symposium in der Akademie der Künste (Berlin)

 

Entretien:

In Frankreich hat sich eine neue Generation von Architekt*innen herausgebildet, die an die rationalistische Diskurstradition anknüpft und diese zugleich mit einer radikalen Einlassung auf die Realitäten des städtischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Kontextes poetisch weiterentwickelt. Darin folgen die Protagonist*innen einerseits lokalen Vorbildern wie Lacaton & Vassal, andererseits lässt sich eine Geistesverwandtschaft mit gegenwärtigen europäischen Architekturentwicklungen wie jene in Flandern nicht leugnen. Die Zeitschrift ARCH+ widmet ihre Herbstausgabe 2020 diesen aktuellen Strömungen und stellt die junge Szene in Essays, Interviews, Statements und Projektpräsentationen vor. Mit dabei sind Gilles Delalex und Yves Moreau, Gründer des Pariser Büros Muoto, die mit dem in Rotterdam ansässigen Architekten André Kempe über ihre Herangehensweise sprachen. Ein Auszug:

Yves Moreau Die Architektur untersteht in Frankreich dem Kulturministerium und nicht wie in anderen Ländern dem Bau- oder Bildungsministerium. Das macht ziemlich viel aus. Ein Architekt kann hier rein künstlerisch argumentieren, und zwar viel selbstverständlicher als in anderen Ländern, wo mehr über konstruktive Logiken nachgedacht wird. In Frankreich kann man sagen: „Wir haben das so entworfen, weil wir es so schön finden.“

André Kempe Eure Projekte vermitteln den Eindruck, dass sie sehr eng mit der Technik verknüpft sind und die Frage der baupraktischen Realisierbarkeit eine große Rolle spielt – als hättet Ihr sie bereits zur Ausführung entworfen. Wie ist hier Euer Ansatz?

Gilles Delalex In den Büros, in denen wir vorher tätig waren, haben wir das Bauen nicht gelernt. Wir haben gelernt, wie man Konzepte und Projekte ausarbeitet, aber Konstruktions- oder Ausführungsdetails haben wir kaum gemacht. Zumindest an unsere ersten Projekte sind wir also sehr naiv herangegangen. Bei Saclay wussten wir beispielsweise nicht, wie man so etwas baut. Und ich denke, wenn wir uns diese Fragen vorher gestellt hätten, hätten wir uns in der Entwurfsphase mehr gebremst. Wir dachten dagegen, wir werden schon Lösungen finden. Wir wussten natürlich, dass es Wärmebrücken gibt. Aber wir sagten uns, das müssen wir nicht jetzt sofort lösen, wir werden sehen, was uns einfällt. Lass uns erst einmal das Ergebnis der thermodynamischen Berechnungen abwarten.

 NEUER REALISMUS <-> FRANKREICH Muoto, Foto: Maxime Delvaux Perspektive

Muoto, Foto: Maxime Delvaux

André Kempe Welche Rolle spielen Details in Eurer Architektur?

Gilles Delalex Im Idealfall gibt es keine, Gott steckt unserer Ansicht nach nicht im Detail. Ein Detail muss ein Detail bleiben. Sonst dreht sich der ganze Entwurf nur um die Frage: „Wie konstruiere ich diesen Winkel?“ Aber ein bisschen Nachdenken erfordert es schon.

 NEUER REALISMUS <-> FRANKREICH Ecole numérique, Foto: Maxime Delvaux Perspektive
Ecole numérique, Foto: Maxime Delvaux

André Kempe Die Visualisierungen Eurer Projekte, wie zum Beispiel für das Maison du Technopôle in Saint-Lô, wirken auf den ersten Blick sehr fotorealistisch. Allerdings liegt darin auch eine gewisse Poesie, die über das Reale hinausgeht. Welche Rolle spielt diese Art der Darstellung?

Gilles Delalex Diese hyperrealistischen Bilder formulieren vor allem eine Intention, ein Ziel, das man sich steckt. Sie sagen etwas aus über den Charakter und die Präsenz eines Gebäudes. Wir wollen mit diesen Bildern einen Punkt erreichen, an dem wir die Realität nicht mehr nur nachzuahmen, sondern so direkt wie möglich zu erfassen suchen, letztendlich um möglichst präzise zu sein. Sie funktionieren für uns in dem Sinne auch als Arbeitsdokumente, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Die Poesie, die Du ansprichst, kommt hingegen aus der Verschiebung, die wir im Vergleich zu einem gewöhnlichen Gebäude versuchen zu erreichen. Unsere Architektur bezieht sich auf viele Archetypen, Architekturen der Nachkriegsmoderne, Dinge, die wir alle sehr gut kennen. Damit das Gewöhnliche interessant wird, ist es notwendig, eine Art Verfremdung zu finden. Um diese Bilder zu erstellen, arbeiten wir seit 2012 mit Olivier Campagne von dem Architekturvisualisierungsstudio ArtefactoryLab zusammen. Für unsere Wettbewerbe macht er die Fotos der Orte und neben dem Architekturfotograf Maxime Delvaux manchmal auch die Dokumentation der gebauten Projekte im Nachhinein.

Gilles Delalex und Yves Moreau werden diesen Herbst zu Gast in Berlin sein, um im Rahmen der Veranstaltung “ARCH+ features 103: Neuer Realismus in Frankreich” mit Stéphanie Bru und Alexandre Theriot (Bruther), Anne Lacaton (Lacaton & Vassal) und Finn Geipel (LIN) über ihre Arbeit zu sprechen. Moderiert wird der Abend von André Kempe (Atelier Kempe Thill und Gastredakteur der Ausgabe) und Anh-Linh Ngo (Chefredakteur ARCH+). Hier gibt es einen Trailer zum Heft.

 NEUER REALISMUS <-> FRANKREICH ARCH+ 240, Neuer Realismus in der französischen Architektur, Herbst 2020 Perspektive
ARCH+ 240, Neuer Realismus in der französischen Architektur, Herbst 2020