NOBODY IS AN ISLAND BUT US <-> ARE YOU WE?
Seit Frühjahr wurde in Wilhelmsburg in Hamburg fleißig an neuen Pontons gebaut, die im Mai feierlich mit einer Inseltaufe eröffnet wurden. Seit der Eröffnung wird die neue Insel mit einem an Umfang und Varianten reichen Programm bespielt. Täglich wird gemeinsam gefrühstückt und zu Abend gegessen, geschrieben, übersetzt und gedruckt. Dabei werden neue Ideen geboren und neue Formen des Zusammenlebens erprobt. Finn Brüggemann von Das Archipel und Claire Mélot und Fabien Bidaut vom collectif mit erzählen, was bis jetzt passiert ist und was uns diesen Sommer noch erwartet.
Bereits seit 2015 in Anschluss an eine Klassen-Projektreise der Hochschule für Bildende Künste Hamburg mit Marjetica Potrč, die sich mit partizipativen Praktiken und aktiver Raumnahme auseinandersetzt, gibt es den Versuch der Nutzung des Wassers als öffentlichen und gemeinschaftlichen Raum durch Das Archipel am Veringkanal. Wie kam es zu dieser Initiative und der Zusammenarbeit mit dem französischen collectif mit in Nantes?
Am Anfang von Das Archipel stand die Idee von dem Versuchsfeld Freiraum. Wie gestalten wir Räume in der Stadt, die keinen vorhergesehenen Zweck erfüllen müssen? Wie eignen wir uns diese an? Wie organisieren wir uns um einen Raum, der alles sein kann aber nichts sein muss? Wollen wir Räume, die anders funktionieren? Hamburg, wie viele andere Städte, präsentiert sich mehr und mehr den tausenden Touristen, die jeden Tag durch seine Straßen ziehen. Die Stadt baut sich für eine hypothetische Bevölkerung von Besucher*innen, nicht für die, die dort wohnen. Wie kreieren wir Bilder eines Gegenentwurfs?
Den Anfang der Zusammenarbeit mit dem französischen collectif mit markierte ein großer Zufall. Claire und Fabien standen an einem sehr kalten Wintertag vor dem Archipel, wo sich Finn gerade aufhielt. Wir kamen ins Gespräch, es gab sofort gegenseitige Sympathie. Aha, wir arbeiten an derselben Mission. Es folgte 2018 ein zweiwöchiger Residenzaufenthalt* vom collectif mit bei Das Archipel und der Honigfabrik in Hamburg und ein gemeinsamer Projektentwurf für 2019: Die Bibliothek der Zukunft. 2018 ging es bereits darum, wie man beim Machen und Tun lernt. Das ist es, was wir derzeit auch an Bord der Bibliothek der Zukunft jeden Tag üben: wie wir uns kennenlernen, wie wir lernen und wie wir Wissen teilen.
* Sculpture Navale #1: Wasser und Stahl. Zweimonatige nomadische Kunstresidenz zwischen Hamburg, Amsterdam und Franeker (NL) über das Wissen/Know-how des Stahlschiffbaus
Ihr konntet die anliegenden Werkstätten der Honigfabrik für Eure Arbeiten nutzen. Woher habt Ihr das Wissen über den Bau von Pontons? Die Konstruktion lädt direkt dazu ein, die Insel zu erkunden. Wie hat das Umfeld auf den neuen Ort bzw. den Aufbau reagiert?
Niemand von uns ist ausgebildete*r Schiffsbauer*in. Als Das Archipel 2015 erstmals gebaut wurde, konnte niemand aus der Gruppe schweißen oder hatte jemals mit Stahl in diesen Dimensionen gearbeitet. Dies betrachteten wir damals nicht als Manko, sondern als Chance, andere miteinzubeziehen. Wir konnten Hafenarbeiter*innen und Handwerker*innen für das Projekt begeistern, heute sind sie Freund*innen und Teil von Das Archipel.
Die Residenz vom collectif mit bei Das Archipel 2018 erforschte Know-how zum Schiffsbau. Sowohl Menschen vom collectif mit als auch von ftts sind Architekt*innen. Da die Pontons der Bibliothek der Zukunft und der Urlaubsinsel dieselben sind, wie die des ersten Archipels, konnten wir das Wissen des vorherigen Baus anwenden. Beim zweiten Mal ist es gar nicht mehr so schwer. Wir lernen voneinander und gemeinsam mit anderen.
Die größte Überraschung für viele ist, dass Das Archipel nicht nur eine Idee ist, sondern dass es diesen Raum tatsächlich gibt und dass man ihn betreten und erkunden kann. Die erste Reaktion von den meisten ist also Begeisterung. Auch hören wir immer wieder, dass sich das Auf-dem-Wasser-Sein anfühlt wie Urlaub. Viele Menschen kommen, nehmen sich ein Buch oder ein Getränk und wirken sofort entspannt. Natürlich gab es auch einige wenige negative Stimmen aus der Nachbarschaft. Da ging es um Angelegenheiten wie die Sichtachse des Kanals, den Blick auf den Kanal, den wir durch die schwimmende Installation stören. Dank der unmittelbaren Nähe zur Honigfabrik und deren Ateliers konnten wir tatsächlich einen Teil des Aufbaus bequem durchführen. Dies führt auch zum täglichen Austausch um die Nutzung und das Teilen von sowohl Räumen, Werkzeugen, Infrastruktur, Strom, Dusche u.v.m.
Umfeld heißt dann in erster Linie die Menschen, mit denen wir seit März täglich die verschiedenen Werkstätten teilen, aber auch die Menschen, die sich spontan und über längere Zeiten am Bau beteiligt haben.
Es liegt an einem öffentlichen Raum, dass die Reaktionen der Umgebung jeden Tag anders sind. Man kommt ins Gespräch. Es wird an jeder Stelle und zu jeder Zeit verhandelt, wie und was dieser schwimmende Raum ist. Jeder Tag ist anders.
Das Kollektive und das Prozessuale sind essentiell für Eure Praxis. Was waren die überraschendsten Momente und Vorschläge, die sich in den letzten Monaten entwickelt haben? Soweit ich das verstehe seht Ihr die Inseln auch als Experimentierfeld zur Erprobung möglicher gesellschaftlicher Formen, was habt Ihr diesbezüglich in den letzten Jahren gelernt?
Überraschende Momente:
- Eine Überwachungskamera anbringen (nachdem wir zwei Nächte in Folge beklaut wurden).
- Eine Bibliothek mit Beinen, die laufen kann.
- Das Projekt abbrechen.
Wir lernen gerade, die Konfliktualität des Raumes und dessen Organisationsform kennen und schätzen. Wenn im Voraus keine Struktur festgelegt ist, ist jede Regel Verhandlungssache. Daraus ergeben sich Konflikte. Diese sind notwendig und wichtig, aber nicht immer leicht. Wir haben verstanden, dass wir nur so einen Raum schaffen können, in dem sich alle wohl und eingeladen fühlen. Ein Raum ist nämlich nicht einfach so offen. Es fühlen sich immer nur bestimmte Menschen angesprochen und eingeladen. Diese Einladung zu erweitern bedeutet Arbeit. Und wenn dann viele da sind und ihre Vorstellungen in die Tat umsetzen wollen, dann kann das zu Konflikten führen. Letzte Woche z.B. wurden gleichzeitig Texte aus Publikationen von Das Archipel und dem collectif mit übersetzt, Druckworkshops mit Kindern gemacht und eine Druckpresse gebaut – das alles auf 50 Quadratmetern. Die Bedürfnisse: Ruhe zum Übersetzen, Baulärm bei den Arbeiten und Rumspaßen mit Kindern; schlossen sich gegenseitig aus. Ein Streit und ein klärendes Gespräch folgten.
Die Erfahrung, auf dem Wasser zu sein: Die Mobilität der Insel bringt viele Themen mit sich. Um sich zu bewegen, brauchen die Inseln einen Schlepper, aber auch einen Ort, um anzudocken. Wo gibt es solche Orte in Hamburg? Die Situation am Veringkanal ist besonders: die Kanalgenossenschaft und die Honigfabrik bieten eine Infrastruktur und die Möglichkeit, dass die Inseln für eine bestimmte Zeit hier sein können. Es ist uns aber bewusst, dass diese Art der Nutzung von Wasserwegen eine Ausnahme ist. Gibt es in anderen Hafenstädten einen anderen Umgang mit Wasser als freiem öffentlichen Raum? Wir teilen unsere Erfahrungen darüber, in Hamburg, aber auch in Nantes oder Montréal. Überall stellt sich die Frage des Kommens und Gehens, des öffentlichen Raums, des Wassers als Gemeingut, des Raums als Gemeingut, des Besitzes, des Kompromisses, aber auch der Gewalt der Prekarisierung aller gesellschaftlichen Formen von Privatem bis Öffentlichem: wohnen, sich frei bewegen können, die Wahrnehmung des Raumes und anderer Lebewesen als Teil von wir und als gemeinsame Situation. Mit den Inseln eine offene, etwas naive Geste gegen die Privatisierung des Raumes zu setzen bleibt politisch. Wir erzeugen ein Bild und Lust, solche Inseln als Freifläche zu vermehren: das Archipel ist nicht nur (in) Wilhelmsburg.
Claire und Fabien, wie bereits erwähnt habt Ihr letzten Sommer eine Zeit lang auf dem Archipel gelebt, wie habt Ihr das erlebt und welche Erfahrungen habt Ihr mit den Anrainern gemacht?
Für uns war vor es allem die Situation an sich, auf dem Wasser zu sein, die eine besondere Atmosphäre erzeugte und es bot sich die Gelegenheit, diese Situation gemeinsam zu bespielen und damit auch ein klares Zeichen zu setzen: da taucht ein öffentlicher Raum plötzlich auf. Er schwimmt. Man sitzt da. Es gibt Gespräche. Manchmal Programm, manchmal Überraschungen. Es hat uns direkt angesprochen, wie etwas, worauf wir gewartet hätten. Wir kennen eher Schiffssituation. Oder Ufer. Aber Pontons, die eine offene freie Fläche anbieten, waren neu. Wir haben sogar auf den Pontons geschlafen.
Um das Archipel herum gab es mit den Leuten der Honigfabrik sehr unterschiedliche Begegnungen, bei denen wir erzählt haben, dass wir keine Ahnung von Stahlarbeit haben und gefragt, ob sie uns nicht zeigen könnten, wie es geht (schweißen, schmieden, nieten, takeln, usw.). Immer wieder haben wir die Situation erlebt, dass sie sich Zeit genommen haben, um ihr Know-how mit uns zu teilen. Sie haben uns alles gezeigt und über ihren Beruf, Arbeitskonditionen oder Erfahrungen mit Körper und Materie, über Stahl und Wasser erzählt. Die Zeit, die sich alle dafür genommen haben, war ein Schatz für uns. Bereits letztes Jahr haben wir unsere Rolle gegenüber dieser Zeit und dem vermittelten Wissen kritisch hinterfragt, weil es sich da ja um Wissen handelt, mit dem diese Menschen eigentlich ihr Leben verdienen. Es geht dabei nicht um Spaß. Und es geht gleichzeitig auch um unsere eigenen Berufe und unsere Prekarität und dem Umgang damit, Wissen zu teilen. Ganz konkret als auch allgemein stellt sich die Frage, was es heißt, Wissen und Können zu teilen. Dies experimentieren wir mit der Bibliothek der Zukunft weiter.
Herzstück der neuen Insel ist die „Bibliothek der Zukunft“. Was findet man dort und wird die Bibliothek genutzt? Zudem wurde eine Druckwerkstatt eingerichtet und eine Publikation ist in Planung. Wisst Ihr schon, wie die Publikation aussehen wird?
Die Bibliothek der Zukunft ist eher eine Handlungskette als ein konkreter Raum. In ihm finden sich tollkühne Ideen, Träume, Visionen und Enttäuschungen. Im tatsächlichen Raum der Bilbliotheksinsel befinden sich Bücher, eine Regalwand, zwei große Tische auf Kinderhöhe, viele kleine Höckerchen, eine Hochdruckpresse, sehr viel Material zum Schreiben, Malen und Drucken und eine selbstgebaute Druckpresse für große Plakate und Textil.
Die Bücher, die an Bord sind, bestehen aus einer Sammlung aus mehreren inspirierenden Texten um die Themen Wasser, Gemeingut, öffentlicher Raum und aus eigenen Texten, Essays, Gedichten, Science Fiction, Fanzines usw. Es ist eine kompakte Auswahl, die jeden Tag neu präsentiert wird und jederzeit zum Lesen zur Verfügung steht. Dazu findet zu jedem Tagesausklang eine kleine Lesung statt: es werden entweder Texte, die während des Tages produziert wurden, oder Auszüge aus der Bibliothek vorgelesen. Die Lektüren am Kanal bieten einen Moment des mehrsprachigen Zusammenhörens und Vorlesens.
Wir wissen noch nicht genau, wie die Publikation aussehen wird. Es geht uns um Situationen, die erlebt werden, wobei einige davon durch Texte oder Druckpapier festgehalten werden. Die Zukunft ist das, was diese Situationen jeden Tag neu schaffen und immer wieder eröffnen. Vor allem die Lust, weiterzumachen oder wiederzukommen. Die tägliche Überraschung, dass es diesen Ort gibt.
Die Publikation wird ein Versuch, festzuhalten, was in der letzten Zeit auf dem Archipel stattgefunden hat. Ein Versuch der Konservierung, Multiplizierung und Verbreitung der Ideen, Träume, Konflikte und Visionen aus der Bibliothek der Zukunft.
Vielen Dank für Eure ausführlichen Antworten und noch einen schönen und erfahrungsreichen Sommer auf der Insel!
Das Gespräch wurde im Juni 2019 mit Stefanie Steps, Kulturbeauftragte des Bureau des arts plastiques, geführt.
Im Juli sind noch folgende Termine auf der Bibliotheksinsel zu besuchen:
- 01.07. – 05.07. ab 13 Uhr: Offene BIBLIOTHEKSWERKSTATT – Drucken mit Kindern: Habitat, wer wohnt wo? Companion species
- 09.07. – 12.07. 10-17 Uhr: AUFS PAPIER: Wir machen ein Buch
- 10.7. 20 Uhr: Konzert: To live and shave in LA
- 12.7. 20 Uhr Konzert: RAYS, Nils Quack
- 12.07. – 13.07. ab 12 Uhr : Performance: COLLECTIVE INACTIONS
- 14.07. ab 18 Uhr: SALONKOSTÜMFEST (Performance, Party): Jakob K. / Gold, Probebühne im Gängeviertel
Jeden Tag Frühstück und Abendessen, und zum Tagesausklang, ab 18:00 Kanallektüre